"ich möchte denjenigen so in Erinnerung behalten wie er war"?
diese Aussage gibt es oft, wenn es darum geht, einen schwer Kranken zu besuchen oder einem Sterbenden noch einmal die Hand zu halten. Viele möchten sich " das Elend nicht ansehen" und "denjenigen lieber gesund in Erinnerung behalten." Was denkt ihr über diese Ansicht?
?2012-06-12T00:50:18Z
Beste Antwort
Wie aktuell deine Frage doch ist. Vor einigen Tagen wohnte ich der Beerdigung der Mutter meines Freundes bei (wir kannten uns ca. 50 Jahre). Eine Enkelin kam nicht zur Beerdigung; sie hat sie wenige Tage vor ihrem Tod noch gesund und fröhlich gesehen (die Mutter war 94) und sagte genau diesen Spruch. Ich selbst finde das nicht in Ordnung (für mich), verlange aber von keinem anderen, er müsse genau so handeln. Wir müssen die jeweilige Entscheidung einfach akzeptieren.
Oh, ich merke gerade, dass das gar nicht deine eigentliche Frage war. Sorry. Aber mir fiel das eben ein.
Mein Schwiegervater ist in unserem Beisein im Februar 84-jährig gestorben. Da er bei uns im Haushalt lebte, waren wir dabei. Es war erschütternd, traurig, aber auch ein großer Augenblick. Wir können wohl einem sterbenden Menschen keine größere Liebe und Zuwendung erweisen, als wenn wir ihn begleiten.
Aber auch hier gilt: wir müssen akzeptieren, wenn ein anderer das nicht kann. Zu sehr spielt vielleicht die eigene Angst vor dem Tod eine Rolle; auch die Tatsache, dass wir gemeinhin den Tod und das Sterben verdrängen. Ich erwarte von keinem anderen, ein so unverkrampftes Verhältnis zum Tod und zum Sterben zu haben, wie ich.
Und diese Aussage "Ich möchte mir dieses Elend nicht ansehen" hört sich natürlich irgendwie auch "brutal" an. Vielleicht (ich nehme diese Menschen schon wieder in Schutz, merke ich gerade) ist es aber auch die totale Hilflosigkeit, die wir in solchen Augenblicken empfinden. Wir möchten helfen, aber wir können es nicht. Tatenlos müssen wir mitleiden. Nicht jeder vermag das.
Nun lebt noch meine Schwiegermutter (80) bei uns. Ich hoffe, dass auch sie in unserem Beisein begleitet sterben kann. Wir müssen nicht viel reden; viel wichtiger ist es, die Hand zu halten.....
Menschen haben eine instinktive, aber durch Denken überkommbare Abscheu vor kranken Menschen. Das liegt daran, dass kranke, sterbende Menschen ansteckend sein könnten, es haben halt eher die überlebt und sich fortgepflanzt, die Abstand von Kranken und Sterbenden hielten, weil sie weniger tödliche Infektionen per Ansteckung bekamen.
Soweit zum evolutionären Vorteil.
Bewusst wird einem von der ganzen Sache höchstens eine Abscheu, einen kranken oder sterbenden Menschen zuzusehen und sich zu nähern.
Sobald man das aber *weiß*, weiß man auch, ob das überhaupt eine rationale Grundlage hat, weil ja nun echt nicht jeder Sterbende eine Infektionsquelle darstellt oder das nicht behandelbar wäre.
Das mit dem "in Erinnerung behalten" ist eine Rationalisierung, die der menschliche Geist gerne macht, wenn ihm sonst keine Ursache bewusst ist. In der Aussage ist eh drin versteckt, dass man den Menschen nicht so, wie er jetzt ist, sehen möchte und er hat sich als gesellschaftlich akzeptierter Spruch etabliert (deswegen hört man ihn immer in der gleichen Form, es ist eine Formel!)
Als ob das was am Istzustand ändern oder frühere Erinnerungen auslöschen würde. Das ist typisch für Menschen, die eigentlich gar nicht selbst wissen, warum sie etwas fühlen oder wollen.
Ich bin froh, dass ich mich von meiner Urgroßmutter am Sterbebett verabschieden konnte.