Pornografisierung von Kunst, Kultur und Werbung. Wie weit geht das?
Sicher kennen viele noch den wunderschönen Klassiker "One" von U2. Leider haben U2 das noch einmal neu aufgenommen, zusammen mit irgendeiner kreischenden "Soul"-sängerin, die den Song mit vielen Huhus in allen möglichen Stimmlagen zukleistert. Es ist, als wollte man uns erklären, je lauter die singt, kreischt oder sonstwie lärmt, desto intensiver das Gefühl, das dahinter steht, sonst würden wir das ja nicht merken. Als das heute so im Radio kam, musste ich unwillkürlich an einen Pornofilmausschnitt denken, den ich irgendwann mal gesehen habe, in dem Frauen ihre Gesichter furchtbar verzerrten und ihre vorgetäuschten Gefühle hauptsächlich in Form von viel Lärm darstellten. Können wir Gefühle noch selbst erkennen oder brauchen wir die Darstellung in teils grotesker Überzeichnung? Beispiel Werbung, die Darstellung von Lebensfreude erfolgt in Form weit aufgerissener Münder, so dass auch der letzte Winkel des Magens noch ausgeleuchtet ist. Leben wir nur noch in der Übertreibung?
2007-11-19T13:24:24Z
@elora, aber kann es nicht sein, dass - wenn ich die Ausnahme bin - die Mehrheit abgestumpft ist von all dem Krach, der auf sie einprasselt?
2007-11-19T14:34:48Z
@Benjamina05, das ist interessant, was du schreibst, allerdings geht mir das zu weit mit dem Untergang der Menschheit, das möchte ich nun nicht glauben.
****rosenrot****2007-11-19T13:35:01Z
Beste Antwort
Leider muss ich Deine Frage bejahen. Irgendwann in den letzten Jahren ist uns das Gespür für die leisen Töne verloren gegangen. Schau doch einmal einen älteren Film an: Da konnte eine Frau nur mit ihren Augen noch mehr ausdrücken als heutzutage eine mit dem ganzen Körper. Und man hat das verstanden! Und schau mal die Fernsehsendungen an, bei denen Publikum beteiligt ist: Da wird vorher schon geübt, wie man klatscht, wie man lacht und wie man vor Begeisterung trampelt. Und währen der Sendung werden dann Tafeln hochgehalten, damit jeder weiss, wann er zu lachen hat. Als wären wir von selbst zu keiner Gefühlsregung mehr fähig.(Und dem "Volk" vor den Bildschirmen muss man doch zeigen, wie gut drauf alle in der Sendung sind.) Die Übertreibung merkst Du aber auch hier bei YC. Wie viele Fragen beginnen mit DRINGENNNNND......, oder BITTTTEEE!!!!......... Ich fühle mich dann immer angeschrieen, aber wahrscheinlich ist das auch der Sinn der Sache.
Wie weit das noch geht? Z.B. bis zu einer eindeutigen Schaufenstergestaltung mit allen Artikelchen die Mann/Frau fürs Intime so braucht. Und das nicht im schmuddeligen Viertel um den Hauptbahnhof herum, nein in einer Gegend, in der überdurchschnittlich viele "junge Familien" wohnen.
Daà alles irgendwann nur noch fade ist und der Kick immer noch gröÃer werden muÃ. Und das nicht nur im "sportlichen" Bereich.
In der Tat sehe ich das, was du siehst, auch. Alles ist mit "Dampfhammer" rübergebracht, grob-erotisierend, SEHR grob, die Sensibilität schwindet. Ich brauche keine brutale Ãberzeichnung, keinen Lärm, keine wild (und falsch) stöhnenden Frauen oder bullenorientierte Männer und andere Menschen brauchen das auch nicht.Doch man beugt das Genick und trägt diese Martern zähneknirschend. Vermutlich wird der Trend zur Pornografisierung noch eine ganze Zeitlang weitergehen, denn die jetzigen Kinder wachsen damit auf und empfinden den Zustand als normal. Der Gegentrend, der IMMER kommt, wird irgendwann einsetzen, doch ob man sich daran dann noch erfreuen kann, ist eine Frage des Alters. Ich glaube übrigens, dass diese unsere Zeiterscheinung naturgegeben ist. Die menschliche Spezies ist reif für solche Degenerationssymptome, die wiederum andeuten,dass wir uns auf unser Aussterben vorbereiten. Ist doch in Ordnung so. Wir haben mit unseren Möglichkeiten wenig angefangen.
Vermutlich ist das das Ende eines länger andauernden Zyklus zwischen Erstehung und Zerfall einer Kulturepoche. Es beginnt im niederen, Primitiven und wächst zu einer Balance gesunder Ãsthetik, die über eine Art Erträglichkeitszenith wandert. Hinter diesem Zenith beginnt die Phase des kulturellen Abbaus, in der wir uns offenbar befinden. Die in der Wachstumsphase herausgefeilten Tabus werden aufgebrochen und die Wanderung in immer krassere Extreme führt zurück zum niederen und Primitiven. Der Kreislauf schlieÃt sich.
Es hängt natürlich davon ab, wer wie viel davon und was als nieder oder primitiv deklariert. Wir leben eben in einer Zeit, in der der Geschmack für das Dezente verloren geht, und wo an seine Stelle etwas Brachiales, Unverhülltes tritt, wie es in der Pornografisierung von allem und Jedem erkennbar ist. Es geht ja längst nicht nur um Gesangsvariationen oder Bilder. Ãberall prangen uns sexuell assoziierbare Konnotierungen und Symbolismen entgegen, es scheint ein mit dem Profitstreben verbundener Drang oder eine Art Sucht darin zu wirken. Vielleicht ist dieser Drall der Menschen hin ins Erotisierte auch nur so etwas wie der Ausverkauf der hintersten Schamgrenzen, nachdem das Private, das Intime und die Gefühlswelt nicht mehr groÃartig ertragreich sind.
Diese Abstumpfung vieler sehe ich ähnlich. Finde mir einen, der noch fantasievolle Träumereien und abendfüllende Gespräche ohne Handy, TV oder sonstigen Lärm bei Kerzenlicht genieÃen kann. Vielleicht treffen sich die längst in einem geheimen Avalon für ausgestorbene Anthroposaurier...
Man kann sich wohl nur in eine Hütte nach Fern-Kasachstan zurückziehen, um dem Ganzen halbwegs zu entgehen, wenn man es nicht mitkriegen will. Diogenes wusste schon, weshalb er eine Tonne wählte...