Neigt sich die Zeit des "Selber-Wissens" ihrem Ende zu?
Wozu Fakten im Gehirn abspeichern und von da aus abrufen, wenn ein Computer das doch so viel effektiver und umfangreicher leisten kann? Ist es heute nicht wichtiger, zu wissen, wie und wo man sich Informationen verschafft, als selber über Faktenwissen zu verfügen? Was meint ihr dazu?
Tahini Classic2012-04-28T06:35:12Z
Beste Antwort
Das ist die alte Debatte "abstraktive versus assoziative Lernstile."
Die Entwicklung, die Du beschreibst, favorisiert abstraktives Lernen - so, wie die Schulsysteme vor allem in der englischsprachigen Welt seit relativ langer Zeit operieren (speziell Grossbritannien, Australien, Kanada, Neuseeland, aber auch Niederlande, Schweden, Daenemark, und vor allem Frankreich).
Das, was abgeloest wird, ist der assoziative Lernstil, den man mir z.B. noch in den 80er Jahren in Bayern um die Ohren gehauen hat, und in den USA sogar mitte der 90er Jahre - "Abfuellen mit Info = Bildung", war da wohl die Devise. Bin gottfroh, dass das Modell auslaeuft. Da, wo ich gerade Schulen aufbaue, in China und Indien, steht man gerade genau auf der Kippe zwischen diesen beiden Denkmodellen, und es ist allen klar, wohin gekippt werden soll: zum Abstraktiven.
Diese Aenderung ist natuerlich nicht einfach, denn in den Augen der Oldtimer des Systems in China und Indien sehen wir mit unserer franzoesischen Schule aus, als braechten wir unseren Leuten nichts bei. Wir hauen denen keine dicken Buecher um die Ohren, wir verlangen keine auswendig runtergebeteten Dinge jeden Tag... sehr suspekt fuer die Dinosaurier.
Aber da muessen die jetzt durch. Sonst wird das nix, mit der intellektuellen Vormachtstellung. :)
Sehe ich nicht so. Denn letztlich kommt es darauf an, dass man die Fakten einordnen kann. Auch wenn alles über Krankheiten und Operationen online verfügbar ist, kann deswegen noch lange nicht jeder Mensch heilen oder operieren.
Das Beurteilungsvermögen muss irgendwo herkommen. Und das tut es oftmals durch die intensive Beschhäftigung mit einer Materie. Schön, wenn diese Informationen verfügbar sind, dennoch bedarf es der längeren Auseinandersetzung mit dem Thema, wozu man die Faktenkenntnis braucht.
Um die Nikomachische Ethik bewerten zu können, muss ich sie mir in irgendeiner Form zunächst angeeignet haben. Es reicht nicht, dass ich sie lese - ich muss sie auch durchdacht haben. Ich kann unzählige Zusammenfassungen und Kommentare lesen, es erspart mir nicht die "Einverleibung" der Materie, wenn ich sie durchdringen will.
Zugegeben: In unserer arbeitsteiligen und wissenstheoretisch weit ausdifferenzierten Welt sind wir oftmals auf den kurzen Faktencheck via Wikipedia oder wissenschaftlicher Bibliotheken angewiesen. Aber dann müssen wir uns auch im Klaren darüber sein, dass die via Computer erfolgte Wissensvermittlung (die ja letztlich nur die Ansichten anderer Menschen wiedergibt) nicht unbedingt das tatsächlich relevante Faktenwissen und die diesbezüglichen Urteilskriterien darstellt.
Hieà es nicht schon zu Anfang des letzten Jahrhunderts so? "Klug ist, der weiÃ, wo er etwas findet." Zunächst ist es unumgänglich, gewisse Zahlen, Daten, Fakten im Gehirn zu speichern und zur Verfügung zu haben, ohne erst groà danach suchen zu müssen. Solche Zahlen, Daten, Fakten sind je nach Fachgebiet oder Arbeitsbereich je andere. Und dies ist auch deshalb notwendig, um z.B. von Schülern erarbeitete Informationen prüfen und bewerten zu können, inwieweit sie (für die Lösung eines Problems) in einem Themenkomplex relevant sind. Wer im Fach Chemie ein Referat über Alkohole hält und dabei lang und breit auf die - summenformelmäÃig identischen, in ihren chemischen Eigenschaften aber von den Alkoholen abweichenden - Phenole eingeht, muà vom Lehrer, ohne daà er dafür bei wiki & co. nachsehen sollte, einen Rüffel kriegen. Klar ist aber auch, daà der aktuell herrschende "Zeitgeist" es erforderlich macht, sich selbständig in ein Fachgebiet einzuarbeiten, ohne dabei den Anspruch zu erheben, ein Experte zu werden oder gar zu sein. Wir kommen hier zurück auf den im 18. Jhrdt. gepflegten Begriff des Dilettanten, der gerade von Schiller und seit ihm seine negative Bedeutung erhalten hat, zuvor aber nicht abwertend war. Das Memorieren bestimmter Fakten wird niemals obsolet werden, selbst dann nicht, wenn der Mensch sich eines Tages einen USB-Port in den Schädel setzen läÃt und sein Gehirn an einen Info-Stick anschlieÃt. Zudem werden gerade Leute, die viel und häufig Fremdsprachen zu tun haben, stets darum bemüht sein, sich einen möglichst reichhaltigen Wortschatz in dieser Sprache zuzulegen. Und obwohl ich in der Stadt, in der ich wohne, keine Karte und keinen Navi brauche, um zu wissen, wo welche StraÃe sich befindet, werde ich dennoch einen Navi brauchen, und dafür ist das Ding ja auch sehr hilfreich, wenn ich mit dem Auto in eine mir fremde gröÃere Stadt fahre. Es wird also auf einen pragmatischen Umgang beider hinauslaufen, "Selber-Wissen" und "Selber-Wissen, wo und wie ich mir noch unbekanntes Wissen aneignen kann".
Edit: Um es auf eine Formel zu bringen: Selber Wissen, mit Verstand, macht klug, Vortrag fremder Klugheit: greller Trug, Wenn für eigene sie sich ausgibt. Aber Klugheit, ja, du bist geliebt.
Sehe das das keineswegs so. Stelle dir einen Anwalt vor, der einen Fall für sich alleine (ohne Publikum) bearbeitet und über keinerlei Fachwissen (z.B. Fachbegriffe, grundsätzliche Paragraphen) verfügt und ausschlieÃlich auf Begriffsdatenbanken, Gesetzes Texte, Erläuterungen und Fallbeispiele im PC angewiesen ist. Undenkbar. Schon immer war wichtig zu wissen, wo finde ich was. Früher stützte man sich eben auf Literatur (mit zeitaufwendiger Suche) ab und heute erledigt diese Suchfunktion eben der Computer und kann auf weit umfangreichere Quellen zugreifen.