Warum klagen hier manche so gerne über lang zurückliegende Verbrechen der Kirche (Kreuzzüge, Hexenverfolgung usw.)?

und gleichzeitig will man von der jüngeren deutschen Vergangenheit (3. Reich) nichts mehr hören ???

Musiker2015-07-24T07:40:32Z

Beste Antwort

Was meinst Du mit "hier?" "Hier bei Yahoo Clever" oder allgemeiner "hierzulande?"

Was Kreuzzüge und Hexenverfolgungen betrifft: die sind nicht nur so lange her, sondern von der heutigen Wirklichkeit der christlichen Kirchen auch so weit entfernt, daß sie bei allem, was es über die heutigen Kirchen Kritisches zu sagen gibt, nicht mehr als ernsthafte Argumente taugen.

Zu beiden historischen Ereignissen noch ein paar Anmerkungen:

Die Hexenverfolgungen im Mittelalter und in Ausläufern noch bis in die Neuzeit hinein waren keine Erfindung der Kirchen, sie sind vielmehr auch von der Katholischen Kirche des Mittelalters (die in mancherlei anderer Hinsicht wahrlich genug Anlaß zu Klagen und Anklagen gibt) zum Teil sogar ausdrücklich verurteilt und bekämpft worden. Etwas anderes war es zum Beispiel mit der Inquisition und den Ketzerprozessen, die hättest Du zu Recht nennen können. Aber auch die gehören längst der Vergangenheit an.

An den Kreuzzügen gibt es wahrlich nichts zu beschönigen. Allerdings darf man auch nicht vergessen, daß hier nicht christliche Eroberer auf friedliebende Muslime einschlugen, sondern daß es um die Rückeroberung ehemals zum byzantinischen Reich gehörender Gebiete ging, die islamische Eroberer zuvor ihrerseits mit militärischer Gewalt unterworfen und an sich gerissen hatten. Daß sich mit den Kreuzzügen höchst fragwürdige machtpolitische Motive verbanden (auch in der machtpolitischen Rivalität zwischen christlichem Abend- und Morgenland) und von den Kreuzfahrern grauenhafte Verbrechen und Massaker jenseits aller militärischen Notwendigkeit verübt worden sind, steht außer Frage.

Wie gesagt: mit den heutigen christlichen Kirchen hat das alles nichts mehr zu tun. Nur plumpe Polemiker, die mangels eigener Sachkenntnis zu keiner differenzierten Auseinandersetzung mit der heutigen Realität der christlichen Kirchen in der Lage sind, kommen noch mit solchen "Argumenten."

Was nun die Verbrechen des Dritten Reiches betrifft: daß viele heute davon "nichts mehr hören wollen," liegt meines Erachtens daran,

1. daß die allermeisten heute lebenden Deutschen damals noch gar nicht geboren waren und auf pauschale Vorwürfe gegen "die" Deutschen und plumpe Nazi-Vergleiche genervt reagieren;

2. weil man den Deutschen die Verbrechen des Dritten Reiches fast immer dann vorhält, wenn die Deutschen mal wieder für irgend etwas zahlen sollen oder man moralischen Druck erzeugen will, um sie zu Wohlverhalten in dieser oder jener Sache zu drängen (z.B. zu einer bedingungslosen Solidarität mit Israel); das heißt: hier geht es letztlich gar nicht um Moral, sondern um Geld und Machtpolitik; diese Verlogenheit empfinden viele heutige Deutsche sehr deutlich und reagieren dementsprechend mit Ablehnung - zu Recht!

3. Daß viele, zumal jüngere Deutsche heute ablehnend reagieren, wenn man ihnen "mal wieder" bzw. "schon wieder" mit den Verbrechen des Dritten Reiches kommt, ist häufig die Reaktion darauf, daß sie damit z.B. in der Schule übersättigt worden sind. Das wiederum war die Reaktion darauf, daß diese Thematik in früheren Jahrzehnten in der BRD eher totgeschwiegen worden war. Anders war es in der DDR gewesen, dort hatte die Verurteilung der Nazi-Verbrechen von Anfang an zur staatstragenden Ideologie der sich antifaschistisch gebärdenden SED-Diktatur gehört; sie diente allerdings auch dort allzu offensichtlich vor allem dem Machterhalt eines Unrechts-Regimes, das seinerseits ziemlich ungeniert Einrichtungen der Nazi-Diktatur übernommen und z.B. im KZ Buchenwald Vereidigungen seiner Soldaten veranstaltet hat.

All diese Instrumentalisierungen der Nazi-Verbrechen zur Legitimation der Kriegs- und Nachkriegspolitik der 2.Weltkriegs-Alliierten und ihrer Vasallen und Schützlinge hatten von Anfang an System und Methode: es ging weder um Recht und Moral noch um eine bessere Zukunft, sondern einzig und allein um Herrschaftssicherung. Die Nationale Empörung über das Unrecht von Versailles (1919) war einer der Hauptgründe dafür gewesen, daß in Deutschland nur 14 Jahre später ein Regime an die Macht kam, das die Schande und das Unrecht von Versailles zu tilgen versprochen hatte. Das Super-Versailles von 1945 suchten die 2.Weltkriegs-Sieger besser und nachhaltiger zu sichern als das Versailler Diktat von 1919. Deutschland sollte noch viel radikaler verkleinert, zerstückelt, einer totalen Kontrolle unterworfen und wirtschaftlich, militärisch und vor allem auch moralisch so geschwächt werden, daß es nie mehr in der Lage wäre, sich gegen die 1945 von den Siegermächten installierte Nachkriegsordnung aufzulehnen und ihre Revision zu fordern (so wie die Revision von Versailles die einhellige Forderung aller Parteien und Regierungen der Weimarer Republik gewesen war); sie sollten nicht nur einsehen, daß das machtpolitisch völlig illusionär und aussichtslos wäre, sondern vor allem auch zutiefst davon überzeugt sein, gar kein Recht dazu zu haben.

Das heißt: die Deutschen sollten dazu gebracht werden, die Generalabsolution, die die Siegermächte sich selbst und ihrer Raub- und Unterwerfungspolitik ausgestellt hatten, auch ihrerseits zu akzeptieren und so zu verinnerlichen, daß sie alles durch die Alliierten erlittene Leid und Unrecht nicht ihnen, sondern sich selbst zuschrieben. Der einflußreiche amerikanische Journalist Walter Lippman resumierte um 1970 herum: erst wenn die Kriegspropaganda der Sieger in die Geschichtsbücher der Besiegten Eingang gefunden habe und von der nachfolgenden Generation auch geglaubt werde, könne die Umerziehung als gelungen betrachtet werden. Das ist weitgehend gelungen. Aber dagegen regt sich immer wieder auch der Widerspruch nationalbewußter Deutscher. Keineswegs nur unbelehrbarer Nazis, sondern auch vieler Deutscher, die die Nazi-Verbrechen in aller Schärfe verurteilen, deren Instrumentalisierung für die Legitimation der alliierten Kriegspolitik und Nachkriegsordnung jedoch ablehnen und die General-Absolution, die sich die damaligen Alliierten verschafft haben, nicht akzeptieren.

Vergleichbares spielt bei der Auseinandersetzung mit den Jahrhunderte zurückliegenden Verbrechen "christlicher" Herrscher und kirchlicher Würdenträger überhaupt keine Rolle. Insofern vergleichst Du wirklich Unvergleichliches.

Joe Jödel2015-07-23T03:39:03Z

Die Deutschen klagen gerne!

doitsujin752015-07-23T03:03:29Z

Ja stimmt, denn hier kann man dann auch wieder meckern, wenn an Führers Geburtstag hochoffiziell in den Kirchen zu Bittgebeten für den Führer aufgerufen wurde.
Dass die Kirchen heute den Staat einspannen für die Kirchensteuer einspannen können, ist auch das Ergebnis dieser Zeit, weil es Teil des Reichskonkordats ist, dass Hitler als ersten Staatsakt mit dem Vatikan unterzeichnete. https://de.wikipedia.org/wiki/Reichskonkordat
Von den "Rattenlinien", den über den Vatikan organisierten Fluchtlinien nationalsozialistischer Kriegsverbrecher in Richtung Südamerika unmittelbar nach dem Krieg ganz zu schweigen. https://de.wikipedia.org/wiki/Rattenlinien
Dass die Deutsche Wehrmacht in einer Kontinuität der Militärtradition auf dem Koppelschloss neben Reichsadler und Hakenkreuz noch die Inschrift "Gott mit uns" trug, sollte auch aufmerken lassen.

Wenn Kirchenoffizielle nicht mindestens mit den Wölfen heulten, hatten sie an vielen Stellen "Das Dritte Reich" aktiv unterstützt.
Für jeden Dietrich Bonhoeffer, der für seine Opposition im KZ gelandet war und letztendlich ermordet wurde, lässt sich ein Vielfaches an Pfarrern und Bischöfen finden, die mindestens Mitläufer, nicht selten aber auch Unterstützer des NS-Regimes waren.
Die Legende der "sauberen" Kirchen im Dritten Reich konnte nur deshalb so lange aufrecht erhalten werden, weil die Leute unmittelbar nach dem Krieg mit der ganzen Zeit abschließen wollten, aber auch weil es im politischen Klima der der Nachkriegsjahre politisch kaum nennenswerte Opposition zu dieser Lüge gab, die Gewicht hatte.
Heute wäre fast schon Gras über Sache gewachsen, wenn es nicht hin und wieder mal ein paar Leute gäbe, die da mal mähen und kräftig auslüften. Von denen wird man nur im kirchenfreundlichen Umfeld seltener zu hören bekommen.

Die Kirchen haben sich immer mit der Macht arrangiert, wenn sie nicht gerade selbst der Machtfaktor waren. Da sind sie flexibel wie ein Grashalm, und es ist dabei auch egal, woher die Kohle und die Privilegien kommen, solange sie fließen.
Selbst der große PR-Coup "Mutter Teresa" hatte in den 80ern dankbar die Millionen der Duvalier-Diktatur in Haiti angenommen, Millionen um die die ohnehin schon arme Bevölkerung durch dieses Regime betrogen wurde. Wer weiß schon, wo das Geld am Ende im Vatikan versickert ist - bei den Armen dieser Welt ist es jedenfalls nicht angekommen.

Das Dritte Reich darf man in der Tat nicht ausblenden, wenn man über die Kirchen spricht, denn es zeigt auf, dass es eine gewisse Kontinuität in den Verbrechen von den Anfängen bis mindestens ins 20. Jahrhundert gibt.

Kreuzzüge und Hexenverbrennungen sind da nur die "schillerndsten" Verbrechen der organisierten christlichen Religion, weil sie heute offensichtlich sämtlichen Werten und gesellschaftlichen Normen widersprechen. Dass nach dieser vordemokratischen, heute archaisch anmutenden Zeit aber noch längst nicht Schluss war, ist dann eher etwas, was man von kirchlicher, teilweise auch von gläubiger Seite gerne unter den Teppich kehren würde.

Wenn der ganze Kram überhaupt aufs Tapet kommt, dann deshalb, weil sich die Kirchen als eine Art Exklusivanbieter für Moral verkaufen, dabei nicht müde werden dies zu propagieren, während es immer schon eine Diskrepanz zwischen dem gab, was man offiziell vertritt, während man im Hintergrund anders handelt. Da klaffen Welten auseinander - auch heute noch.
Speziell das Dritte Reich und die Kirchen zu beleuchten, ist auch ganz hilfreich, wenn Gläubige nicht müde werden, das Märchen vom "atheistischen" Hitlerregime wieder auszupacken. Das war von Atheismus weit entfernt, und selbst wenn es wirklich atheistisch gewesen wäre, hätte das weder mit Humanismus und Menschenrechten, noch mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit etwas zu tun gehabt - genau den Faktoren nämlich, mit denen sogenannte Atheisten organisierter Kirche eigentlich den Finger zeigen wollen, weil das Religion nicht erfunden hat - die nächste große Lüge - sondern gegen die Religionen als Störfaktor immer wieder erkämpft und erstritten werden musste, ganz offensichtlich auch weiterhin erkämpft und erstritten werden muss.

Dort den Finger immer wieder in die Wunde zu legen dient dazu, auf den riesigen Haufen Dung hinter der netten Fassade immer wieder neu aufzudecken, damit vielleicht irgendwann auch der letzte kapiert, dass Kirche in Sachen Moral und Ethik die letzte Station ist, wo man danach suchen sollte.

Werner1000002015-07-23T02:29:40Z

Die Verbrechen unserer Väter und Großväter im 3. Reich können wir trotz ihrer Schrecklichkeit nicht leugnen.
Es ist die Verlogenheit des Jetzt.
Die Kirchen im allgemeinen (alle, Juden, Molem, Christen, Bhudisten usw.) haben ihre dunkelen Seiten und legen großen Wert darauf nichts nach oben kommen zu lassen - auch heute noch.

rio-blanco2015-07-23T02:00:26Z

Das liegt wohl vor allen Dingen daran, daß die Judenverfolgung viel zu ausgibig behandelt wurde und dabei andere Probleme unter den Tepich gekehrt wuirden. Ich erinnere Zeiten in den 80gern da wurde das Thema Judenverfolgung zumindestens in einem Fernsehkanal behandelt, so daß man ein abendfüllendes Holocaustprogramm hatte. Das führte dazu, daß den Menschen dieses Thema einfach zum Halse heraus hing.

Weitere Antworten anzeigen (8)