Gab es früher auch schon Legastheniker (und keiner hat´s gemerkt)?
Luther z.B.
oder Einhard....
Luther z.B.
oder Einhard....
Alberich
Beste Antwort
Deiner Frage liegt vermutlich das merkwürdig anmutende Schriftbild alter Texte zugrunde. Der Gedanke, woran man denn erkennt, ob damals so geschrieben wurde oder ob man gerade einen Rechtschreibfehler entdeckt hat, ist mir gar nicht so fremd.
Mein Brockhaus definiert Legasthenie folgendermaßen:
„Schwäche im Erlernen des Lesens und orthograph. Schreibens bei vergleichsweise durchschnittl. oder sogar guter Allgemeinbegabung des Kindes.“
Da liegt deine Frage gar nicht mal so weit weg, wie es zunächst vielleicht den Anschein haben mag. Dennoch verwerfe ich sie, um das Problem von einer anderen Seite betrachten zu können.
Trotz der sicherlich fachlich richtigen und vermutlich sogar guten Definition des Brockhauses, möchte ich eine andere Erläuterung von Legasthenie als Überlegung einführen:
>>Als Legasthenie wird die Unfähigkeit beschrieben, einer vorgegebenen Rechtschreib- und Lesenorm mit einer definierten Quote an maximalen Abweichungen zu genügen.<<
Was wir heute als Rechtschreibung kennen ist nichts anderes als eine zur Norm erklärte Gewohnheit, die erst durch die staatlich verordneten Rechtschreibreformen von 1902 und 1998 auf ein (für die Normalbevölkerung) abstrahierendes Niveau geführt wurden. Die Anfänge einer Rechtschreib-Normierung liegen im 16. und 17 Jahrhundert, bis dann 1875 erstmals auf einer Berliner Konferenz die „Herstellung größerer Einigung in der dt. Rechtschreibung“ beschlossen wurde. Das von dir angegebene „früher“ liegt mit Einhard ganz deutlich, aber auch noch mit Luther deutlich davor.
Es ist heute nur noch schwer vorstellbar, wie das Leben in einer weitgehend nicht-normierten Welt funktioniert hatte. Daher mal zusammenfassend: gut!
Bis zum ausgehenden Mittelalter besaß der Klerus ein Quasi-Monopol auf Bildung und damit auch auf Rechtschreibung. Um bei deinen Beispielen zu bleiben: Einhard erfuhr eine geistliche Ausbildung, wobei das Schreibenlernen zunächst in Form von manuellen Kopien vonstatten ging, was bei der vorherrschenden Schriftform seiner Zeit, der karolingischen Minuskel, vielleicht ein gar nicht so schlechter Ansatz war (s. ersten Link unten). Die Lernenden hatten zu lernen, was vorgegeben wurde, wobei es eine Rechtschreibung im heutigen Sinne nicht gab. Es durfte jeder so schreiben, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Das ist ein großes Glück für die Mediävisten heute, denn es heißt z.B., daß ein Sachse eindeutig zu erkennen war. Denn schon damals haben Sachsen beispielsweise den dentalen stimmlosen Verschlusslaut 't' wie den stimmhafter dentaler Verschlusslaut 'd' gesprochen. So schrieb denn auch der sächsische Gelehrte Widukind von Corvey (9. Jh.) in seiner auf Latein abgefaßten Geschichte der Sachsen ein quasi sächsisches Latein. Und so wurde dort aus seinem auch heute noch bekannten König Otto dem Großen ganz schlicht ein „Oddo“ (2. Lind, 3. Zeile, 1. Wort).
Du darfst mir glauben, daß für Anfänger dieses die schwierigsten Passagen im Text sind *lach*.
Im Falle Luthers war dies nur wenig anders, wenn auch die Schriftlichkeit seit etwa der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts Einzug in bürgerliche Kreise gefunden hatte. Gelehrt wurde das Schreiben in den (heute) berüchtigten „scholae“, in denen im wahrsten Wortsinne noch Zucht und Ordnung herrschte. Dies galt jedoch weniger für das Hochdeutsche, dessen Luther sich bediente. Auch wenn es bereits geschrieben wurde, denn jedoch auch sechs Jahrhunderte nach Widukind von Corvey noch nach Art des Mundes.
Einen Zwang zur Normierung hatte auch zu dieser Zeit keinen Sinn, weil es für das sehr wichtige Urkundenwesen Juristen gab, die selbstverständlich(!) alle Schriftformen und alle gebräuchlichen Dialekte (in Schriftform) verstanden. Es waren hoch ausgebildete Gelehrte, die zu Rechtsstreitigkeiten herangezogen wurden. Sächsisches, friesisches oder irisches Mittellatein konnten sie ohne Probleme verstehen, und Mittelniederdeutsch war in weiten Teilen Umgangssprache, so daß sich ein Zwang zu einer Regelung nicht herausbildete.
Wenn es nun keine Norm gab, war es auch unmöglich, sie nicht einzuhalten. Sicherlich sind auch heute noch Schreibkundige von weniger Schreibkundigen zu unterscheiden, weil sich ganz einfach über die Traditionen des Lehrens eine Art „common sense“ herausgebildet hatte. Wenn jemand diesen jedoch mißachtete... war’s allen egal. Die einzige Norm war nämlich: Hauptsache es wird verstanden.
Rein Theoretisch könnte man jetzt behaupten, daß es demnach auch früher schon Legastheniker gegeben haben könnte, die man heute dann als weniger Schreibkundige identifizieren würde. Das wäre aber der falsche Blick, denn es gab ja keine Norm an der er hätte gemessen werden können. Es ist als wolle man die Tiefe eines Gedankens messen...
Und noch als Bonmot:
Das Wort Legasthenie setzt sich aus „leg“ als Kurzform des lateinischen „legere“ für lesen und dem griechischen „asthenea“ für Schwäche zusammen. Mal ehrlich, wer so ein Wort erfindet, hat doch ganz deutlich Probleme mit den Sprachen, oder?
Alfred l
Sicher.
Katzenfreundin
Mit Sicherheit.
Die wurden dann häufig trotz zT hoher Intelligenz auf die sogenannte Hilfsschule verbannt, weil man sie schlicht für beschränkt hielt.
lacy48_12
Klar, es gab auch früher schon Blinddarmentzündungen und keiner hats gemerkt.
millionenworte
Was die verschiedenen Krankheiten betrifft, an denen manche Menschen leiden, so rühren sie vom Schleim her, der sie anfüllt. Wäre der Mensch im Paradies geblieben, so hätte er keinen Schleim im Körper – woher die Krankheiten stammen – sondern sein Leib wäre gesund und frei von ihm. Nun aber hat er sich dem Bösen zugeneigt und hat das Gute verlassen, und da ist er der Erde ähnlich geworden, die gute und schädliche Kräuter hervorbringt und gute und schädliche Feuchtigkeit in sich birgt. Denn vom Genuss des Apfels ist das Blut der Söhne Adams in das Samengift verwandelt worden, dem die Menschenkinder entstammen. Daher ist ihr Fleisch voll Schwären und Löcher, die gewissermaassen Sturm und Rauchniederschläge in den Menschen herbeiführen; und hieraus bildet sich Schleim und erstarrt und macht den Körper krank … Manche Menschen sind gierig und enthalten sich nicht üppiger Speisen. So bildet sich in ihnen giftiger, zäher, trockner Schleim, kein feuchter, sondern scharfer, der aufgeschwemmtes, dunkles und krankes Fleisch in ihnen wachsen lässt. Und wenn sie sich vom Genuss der fetten Speisen nicht enthalten mögen, ziehen sie sich leicht den Aussatz zu. Und die Schärfe des Schleimes erregt einen Brodem wie von Melancholie um Leber und Lunge, sie werden jähzornig und verdriesslich, und ihr Schweiss ist nicht sauber, sondern schmutzig. Sie sind aber nicht schwach, sondern tüchtig und kühn, und in Folge ihrer Körperbeschaffenheit sind sie herrschsüchtig und anmaassend. Der Schleim richtet einige dieser Constitutionen schnell zu Grunde, da er stark ist, einige aber lässt er länger leben. Andere Menschen sind von geiler Natur und noch weniger enthaltsam, so dass sie sich kaum mässigen können und auch krank werden. Die haben zu viel feuchten Schleim, weil sich in ihnen schädlicher Saft bildet und ein böser Schleim sich ansammelt, der ungesunden Brodem in ihre Brust und Gehirn aufsteigen lässt. Die Feuchtigkeit dieses dampfenden Schleimes verringert ihr Gehör, so dass sie in ihrem Magen und in den Ohren wie ein schädlicher Nebel ist, der gute Pflanzen und Früchte schädigt. Dieser Schleim thut aber der Lunge nichts, da sie auch feucht ist und keine Feuchtigkeit annimmt – sonst würde sie sofort weggeschwemmt werden. Auch auf das Herz hat er keinen bösen Einfluss, denn das wird immer stark sein und zu grosse Feuchtigkeit nicht annehmen. Leute von dieser Constitution sind freundlich und heiter, doch träge, und manche von ihnen leben ziemlich lange; denn dieser Schleim tödtet nicht, doch trägt er auch keineswegs zur Gesundheit bei. – Manche sind jähzornig, doch ihr Zorn verraucht bald, und sie sind trefflich und heiter, doch kalt; sie haben schwankende Sinnesart und sind mit geringer Nahrung zufrieden. Diese aber ziehen sich von den drei Schleimarten, dem trocknen, feuchten und lauwarmen Schleim, wässerigen Schaum zu, der aus dem Schleim entsteht und gleichsam gefährliche Pfeile in ihre Adern, Mark und Fleisch sendet, wie kochendes Wasser, welches kochenden Schaum ausstösst …
hildegart von bingen